Das Trio kam zu dem Schluss, dass über Wissen, Papier und die geschlechtsspezifischen Welten, in denen diese entstanden, noch viel mehr gesagt und in Erfahrung gebracht werden könnte. Als Ergebnis entstand die Arbeitsgruppe „Working with Paper: Gendered Practices in the History of Knowledge.“ Aus dieser ging ein Buch gleichen Titels vor, das im Juni 2019 bei der University of Pittsburgh Press erschien.
Arbeiten mit Papier begründet was wir wissen
Im Rahmen des Projekts Gender Studies of Science von Abteilung II entwickelte die Gruppe eine neue Sichtweise darauf, wie das Arbeiten mit Papier sich in unser Wissen einschreibt (Bild 1). Nach einer Auftaktkonferenz im Januar verbrachten alle Mitglieder im Herbst des Jahres 2016 vier Monate gemeinsam forschend am Institut. Als Endprodukt entstand ein Band, der wissensgeschichtliches Neuland betritt. Er zeigt auf, dass Papier in seiner oft selbstverständlichen Allgegenwart mit ähnlich selbstverständlichen − und damit zuweilen nicht wahrnehmbaren − gesellschaftlichen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit eng verbunden war. Das Buch verknüpft Papier, Wissen und Geschlecht zu drei Interventionen.
Papier hat Bedeutung über den Seitenrand hinaus
Erstens: Das Universum von Papier und Wissen reicht weit über Lesen und Schreiben und die gelehrten Praktiken einiger Weniger hinaus. Auf vielfache Weise hat Papier Bedeutung jenseits des Seitenrands: als Material, als Schriftträger und als Objekt. Die Autoren beleuchten eine Vielzahl solcher Papiermaterialien und -objekte. Heather Wolfe veranschaulicht, dass das sorgfältige Falten und Versiegeln von frühneuzeitlichen Briefen ebenso wichtig war wie das, was auf der Seite geschrieben stand (Bild 2).
Elaine Leong untersucht Rezepte und zeigt, wie Männer und Frauen frühmoderner Haushalte medizinisches Wissen durch Beschriften, Sortieren und Zusammenheften von Papier kodifizierten, das Material aber auch als Filter, Abdeckung und Heilstoff einsetzten. Simon Werrett führt die vielfältigen Verwendungen von Altpapier im achtzehnten Jahrhundert vor, das man auch zum Brennen von Haarlocken verwendete (Bild 3). Christine von Oertzen enthüllt das wahre Gewicht der stabilen preußischen Zählkarten, die bei Volkzählungen in ganz Berlin im Umlauf waren und von Hausfrauen in ihren guten Stuben sortiert wurden (Bild 4). Anna Märker zeigt, wie anatomische Modelle aus Pappmaché nicht nur der Ausbildung von Medizinstudenten dienten, sondern auch zur Erbauung und Bildung der Arbeiter beitrugen, die diese Modelle herstellten (Bild 5). Der Band verdeutlicht, dass das Arbeiten mit Papier vielfältigste Aktivitäten jenseits der Schriftseite umfasste: vom Falten und Versiegeln der Briefe, dem Herstellen von Etiketten, dem Sortieren von Rezepten und Daten, dem Brennen von Locken bis zum Mischen von Papierpaste und Modellieren von Formen. In seinem Nachwort erweitert Jacob Eyferth dieses westliche Spektrum mit einem Blick auf chinesische Praktiken der Herstellung und des Gebrauchs von Bambuspapier (Bild 6).
Papierobjekte überschreiten Grenzen
Zweitens: Papierobjekte überschreiten Grenzen und formen epistemische Gemeinschaften wie auch die Arbeit und die Menschen, die mit den Objekten befasst sind. Jeder Beitrag untersucht ein bestimmtes Papierobjekt als dreidimensionales Werkzeug und als Technologie. Beth Linker untersucht, wie in der Anfangszeit der amerikanischen posture science zu Beginn des 20. Jahrhunderts transparentes Zeichenpapier für die Herstellung von Landkarten zu einem Medium des „physiologischen Feminismus“ wurde (Bild 7).
Dan Bouk untersucht Erhebungsfragebögen und Modellierwerkzeuge der Bevölkerungsforschung der Nachkriegszeit und überbrückt mit diesen den Raum zwischen den Haushalten, die Forscher bei ihrer Feldforschung aufsuchten, und dem statistischen „Laboratorium“ im Forschungsinstitut (Bild 8). Elena Serrano situiert Pergamentstreifen, die mit Namen und anderen wichtigen Informationen an der Taille von Säuglingen befestigt wurden, als Teil eines neuen panoptischen Papiersystems zur Bekämpfung der erschreckend hohen Sterblichkeitsrate im Madrider Findelhaus. Indem die Fallstudien den Papierobjekten und den aus diesen gefertigten Werkzeugen zu den Orten und alltäglichen Praktiken der Wissensproduktion folgen, erschließen sie den Reichtum, den eine Geschichte des Arbeitens und Wissens mit Papier zu bieten hat.
Wissensgeschichte ist soziomateriell
Drittens: Die Geschichte des Wissens ist „soziomateriell“ und eng mit der Ordnung und Unordnung des Alltäglichen verknüpft. Durch den Fokus auf das Material kommen Frauen und Männer, Familien und Gemeinschaften zum Tragen, die Papierzeug benutzten und bearbeiteten. Die Beiträge machen das Papier in seiner Materialität sichtbar und ermöglichen so die Analyse des Sozialen in Praktiken der Wissensproduktion. Sie untersuchen die komplexen Welten, durch die Papier zirkulierte, als Gewebe von Beziehungen, geprägt von Macht und Differenz. Sie beobachten, wie Papier durch die Hände historischer Akteure geht und diese Wissen produzieren, indem sie miteinander in Beziehungen treten, in denen sie als weiblich oder männlich gelten.
Gabriella Szalay macht diese Aushandlungen anhand von gescheiterten Versuchen eines Naturforschers deutlich, Papier mit heimischen Surrogaten wie Tannenzapfen, Pappelwolle oder Wespennestern herzustellen (Bild 9). Staatsführung, wissenschaftliches Experimentieren und handwerkliches Können des 18. Jahrhunderts vermischen sich in ihrer Analyse zu einem spannungsreichen Gemisch, in dem unterschiedliche Ideale von Männlichkeit gleichermaßen auf dem Spiel standen. Anhänger der vor dem amerikanischen Bürgerkrieg weit verbreiteten Phrenologie nutzen, wie Carla Bittel zeigt, Faltblätter und Kartensets als Interface zur Selbsterkenntnis, indem sie den Grad ihrer eigenen Weiblichkeit und Männlichkeit bestimmten, aber auch verhandelten (Bild 10).
Working with Paper eröffnet ein Universum, in dem Papier und Geschlecht grundlegend mit bedingen, wie wir zu welchem Wissen gelangen. Forschungsgegenstand (Papiere und Papierzeug) und Ansatz (Gender-Analyse) bilden ein Raster, durch das wir erkennen, in welch vielschichtigen und kontinuierlichen sozialen Aushandlungsprozessen Wissenspraktiken sich entfalten.
Über die Herausgeberinnen
Carla Bittel ist Associate Professor of History an der Loyola Marymount University in Los Angeles, USA; Elaine Leong leitete die Minerva Research Group "Reading and Writing Medicine in Early Modern Europe" am MPIWG, bevor sie im 2019 an das History Department des University College London berufen wurde. Christine von Oertzen ist Forschungsgruppenleiterin am MPIWG.