Zwischen 1900 und 1930 entwickelte sich in Berlin ein Netzwerk verschiedener Institutionen, die ein neues Interesse an Akustik verband. Das florierende Elektrotechnikunternehmen Siemens & Halske baute im Norden des Berliner Bezirks Charlottenburg die Siedlung „Siemensstadt“, und die Carl Lindström AG mit Sitz in Berlin-Kreuzberg erschloss einen globalen Markt für Grammophontechnik. Auch das von Carl Stumpf gegründete Institut für Psychologie (Schwerpunkt: Tonpsychologie) expandierte, von seinem bescheidenen Universitätsseminar in der Dorotheenstraße zum großangelegten Forschungszentrum im Berliner Stadtschloss. Während des Ersten Weltkriegs gründeten Stumpf und der Phonetiker Wilhelm Doegen die Königlich Preußische Phonographische Kommission, um die Sprache und Musik von „kolonialen“ Kriegsgefangenen aufzuzeichnen, die in der Nähe von Berlin interniert waren. Diese Forschungsinitiative führte während der Weimarer Republik zum Aufbau zweier Schallarchive: das Berliner Phonogramm-Archiv und die Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek. Später, während der 1920er-Jahre, gründete man an der Berliner Hochschule für Musik mit der Rundfunkversuchsstelle zudem ein experimentelles Rundfunklaboratorium. Diese verschiedenen Initiativen und Bestrebungen waren der Politik, Industrie, Wissenschaft, Kunst und Technik verpflichtet, was die Entwicklung einer langlebigen Infrastruktur, die Überlieferung technischen Wissens und die Herausbildung ganzer Forschungsfelder – unter anderem der Elektroakustik, experimentellen Phonetik, Linguistik, Phoniatrie, Sprach , Musik und Rundfunkwissenschaft, Bioakustik und Tonpsychologie – beförderte.
Die neue Datenbank „Sound & Science: Digital Histories“ – das Ergebnis archivarischer Forschung und konzeptueller Arbeit der Max-Planck-Forschungsgruppe „Epistemes of Modern Acoustics“ – versucht komplexe institutionelle Netzwerke wie dieses zu entwirren. Einzelne Forschungsprojekte innerhalb der Arbeitsgruppe untersuchen die Genealogien akustischen Wissens in der Moderne. Sie verfolgen die Entstehung des Wissenschaftszweigs der Akustik und befassen sich mit den historischen Bedingungen, die zur Verwandlung von akustischem Wissen in Wissenschaft wie umgekehrt zur Übertragung wissenschaftlichen Wissens in die Praktiken von Musiker_innen, Architekt_innen, Ingenieur_innen und Durchschnittshörer_innen beitrugen. Im Fokus stehen somit die offenkundigen als auch die oft nur impliziten akustischen Strategien der Wissensproduktion in den verschiedensten natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die bislang von der Wissenschaftsgeschichte weitgehend unbeachtet geblieben sind.
Die „Sound & Science“-Datenbank bietet – zurzeit in der Betaversion – den Zugang zu einer Vielzahl wichtiger und bislang digital nicht verfügbarer Quellen der Akustikgeschichte. Zur Datenbank gehören ein Multimediaarchiv mit Primärquellenmaterial, eine Dokumentation erhaltener Technik und historische Reenactments zentraler akustischer Experimente. Die Darstellungsfunktionen der Datenbank eröffnen umfangreiche und lange Zeiträume umfassende Einblicke in die Akustik- und Wissenschaftsgeschichte und ermöglichen den Nutzenden einen neuartigen Umgang mit dem Quellenmaterial. Die Datenbank umfasst Klangdaten, Texte und Bilder, die mithilfe einer Volltext-Suchfunktion oder über kuratierte Sammlungen erschlossen oder anhand einer Karte lokalisert werden können. So enthält die Datenbank etwa die kuratierten Sammlungen „Carl Stumpfs experimentelle Aufnahmen“ oder „Das Laboratory of Ornithology’s Recordings of Birdsongs der Cornell University“. Und steuert man auf der Karte beispielsweise Berlin an und verengt den Zeitschieber auf „1900–1930“, finden sich Primärquellen zu dem oben beschriebenen lokalen Netzwerk von Institutionen.
Weitere Analysefunktionen der Datenbank spiegeln die Vielfalt der Akteurinnen und Akteure, Orte, wissenschaftlichen Disziplinen, praktischen Bereiche, Techniken, Baumaterialien und theoretischen Fragestellungen wider, die die Akustikgeschichte geprägt haben. Die Datenbank ist so strukturiert, dass sie die Inhalte zur einer Reihe vordefinierter Themenfelder verbindet – so zum Beispiel zu Techniken wie „Stimmgabeln“ oder „Sirenen“, Materialien wie „Metall“ oder „Holz“ oder Themen wie „Sprache/Stimme“ und „Lärm“. Diese jeweils mit kurzen Texten erklärten Werkzeuge machen die Datenbank zu einem Recherchetool; sie unterstützen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beim Erkennen neuer Verbindungen und Forschungsbereiche.
Indem sie die Archive aus verschiedensten Orten und Zeiten – vom alten Griechenland und dem Römischen Reich bis zum heutigen Taiwan – zusammenführt, bietet die „Sound & Science“-Datenbank ihren Nutzerinnen und Nutzern ein Instrument zur Wiederentdeckung einer historischen Vielfalt an wissenschaftlichen, künstlerischen, religiösen und politischen Praktiken, die mit der Untersuchung von Schall verbunden sind. Die Sammlung wird durch die Mitglieder, Gastforscher_innen und Mitarbeiter_innen der Forschungsgruppe stetig erweitert und dokumentiert somit die Arbeit des Gesamtprojekts. Um seltenes Material zu sammeln, zu digitalisieren und zu kontextualisieren, kooperiert das Datenbankteam mit internationalen Institutionen, unter anderem mit dem Deutschen Museum in München (Forschungsgruppe „Materiality of Musical Instruments“), dem Londoner Science Museum, der New York University, der University of Cambridge, der Universität Maastricht, der Universität Amsterdam und der Humboldt-Universität zu Berlin.
Mitarbeiter_innen des Datenbankprojekts unterstützen die Verbindung und Kontextualisierung historischer Quellen durch speziell kuratierte Exponate und multimediale Essays. Die von Expertinnen und Experten der Musik- und Klangwissenschaft, der Wissenschafts , Technik , Ingenieur- und Architekturgeschichte verfassten Essays beleuchten die Objekte vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse ihrer jeweiligen Disziplinen (die ersten Beiträge sind bereits online, wir freuen uns über Beitragsvorschläge!). Umgekehrt lassen sich die Objekte aus der Datenbank über QR-codes und Kurz-URLs direkt mit den eigenen digitalen und Printpublikationen der Nutzer und Nutzerinnen verbinden.
Die Datenbank entstand in Zusammenarbeit mit der wissenschaftlichen IT-Gruppe des MPIWG. Außerdem wurde sie von früheren Projekten des Instituts wie dem „Virtuellen Labor“ sowie von bestehenden geisteswissenschaftlichen Projekten im Bereich Wissenschafts- und Akustikgeschichte inspiriert, darunter die Rekonstruktion der New Yorker „Roaring Twenties“, eine interaktive Karte der Grammophongeschäfte in Paris, eine historische Sammlung von weltweiten Sprechbrief-Aufnahmen sowie die verschiedenen Projekte der British Library zur Katalogisierung, Kartierung, Kommentierung und Analyse von historischen Tonaufnahmen. Die neue Datenbank „Sound & Science“ ergänzt diese hochspezialisierten digitalen Plattformen, indem sie ein breit angelegtes Verständnis von Akustikgeschichte und ihren Quellen vermittelt. Die Datenbank strebt in keiner Hinsicht Vollständigkeit an, ermöglicht aber Querverbindungen und neue Einsichten in überraschende und unerwartete historische Relationen zwischen den Quellenmaterialien. Die Datenbank enthält zurzeit rund 1000 Dokumente. Dies ist der Auftakt: Fortlaufend werden Inhalte hinzugefügt, Funktionen und Funktionalität der Website verfeinert. Das Ziel der Forschungsgruppe „Epistemes of Modern Acoustics“ liegt in der Erprobung neuer Wege, um auf die spezifischen Herausforderungen der digitalen Geschichte des Schalls zu reagieren. Beiträge, Rückmeldungen und Anregungen zur Weiterentwicklung der Betaversion sind willkommen.