Ein Großteil ihrer Ausbildung erfolgt sicherlich in offiziellen Umgebungen wie Schule und Labor. Die Geschichtswissenschaften hat sich daher mit Unterrichtsräumen und Lehrbüchern befasst und in den letzten zehn Jahren den Fokus darauf gelegt, wie Lehrende ihren Schülerinnen und Schülern oder Lehrlingen Fachwissen nicht nur abstrakt, sondern auch habituell vermitteln. Lernen hört jedoch mit der offiziellen Ausbildung nicht auf und beginnt oftmals auch an einer ganz anderen Stelle. Als praktische Anleitung oder als Nachschlagewerk tragen Handbücher schon seit langem zur informellen, von den Lernenden oft selbst gesteuerten Bildung und Schulung bei. Darüber hinaus bieten Handbücher auch einen neuen Blickwinkel, um die Wissenschaftsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart mit der Buch- und Mediengeschichte zusammenzubringen. Handbücher kodifizieren als praktische Anleitungen und Nachschlagewerke das Wissen einer Fachgemeinschaft mit dem Ziel, das zu vermitteln, was Praktizierende in der Praxis wissen müssen. Diese Texte nahmen auch eine Schlüsselrolle ein, wenn es darum ging, lokales Wissen und Know-how zu einer weit entfernten Leserschaft und zu Praktizierenden in aller Welt zu tragen. Indem dieses Projekt sich nicht nur auf die Elite der Praktizierenden konzentriert, sondern sich mit diesen scheinbar profanen Texten und ihrem Gebrauch beschäftigt, rücken aufregende neue historische Akteure und Beziehungen ins Blickfeld.
Überlegungen zu einem scheinbar selbstverständlichen Genre
Das vorliegende Projekt nahm seinen Anfang in Berlin, als Angela Creager, Visiting Research Scholar in der Abteilung II („Ideals and Practices of Rationality“ unter der Leitung von Lorraine Daston) am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) war und sich mit Mathias Grote vom Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der Humboldt-Universität über gemeinsame Interessen austauschte. Beide stellten verblüfft fest, dass sie jeweils an der Geschichte eines Handbuchs arbeiteten, in einem Fall aus der Bakteriologie des frühen 20. Jahrhunderts, in dem anderen aus der Molekularbiologie der 1980er Jahre. Daraus resultierten folgende Fragen: Was eigentlich ist ein Handbuch? Wie können wir eine scheinbar selbstverständlich Gebrauchsliteratur verstehen, auf die jeder Forschende im 20. Jahrhundert zurückgreift, mit der sich aber niemand wirklich auseinandersetzt? Schnell wurde uns klar, dass die Geschichte des Handbuchs, das als Nachschlagewerk und als Anleitung fungieren kann, komplex und verschlungen ist. Da wir diese Geschichte in ihrer langen zeitlichen Entwicklung rekonstruieren wollten, holten wir mit Elaine Leong eine Forscherin zur frühen Neuzeit an Bord, die am MPIWG zu Rezeptliteratur sowie zur Geschichte des Lesens und Schreibens arbeitet. Zusammen mit Kerstin von der Krone (Leiterin Hebraica- und Judaica Sammlung, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Goethe-Universität Frankfurt am Main) organisierten wir im Juni 2018 in Princeton eine Konferenz zum Thema, die vom Deutschen Historischen Institut Washington unterstützt wurde. Aus der breiten Palette von Beiträgen zur Wissensgeschichte des Handbuchs haben wir 12 Arbeiten ausgewählt, die sich auf die Bereiche Wissenschaft, Technik und Medizin konzentrierten, und in einer Open-Access-Sonderausgabe von BJHS Themes unter dem Titel „Learning by the Book: Manuals and Handbooks in the History of Science“ veröffentlicht.
Das Handbuch als Anleitung und Nachschlagewerk: Eine Geschichte
Handbücher haben eine lange und kulturübergreifende Geschichte, die bis in die Antike zurückreicht. Praktisches Wissen wurde in der Regel von Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern an Lehrlinge weitergegeben und musste nicht aufgeschrieben werden. Wurden Anleitungen schriftlich festgehalten, dann geschah dies unter bestimmten kulturellen Bedingungen der Alphabetisierung, Mobilität und Zirkulation von Textmedien. Etymologisch gesehen sind Handbücher Bücher, die man in näherer Reichweite „zur Hand“ hat oder die, in der Hand gehalten, zur Anleitung, zum Nachschlagen und gar als Ort zur Notation handschriftlicher Anmerkungen dienen. Im Englischen existieren für das Handbuch als Anleitungstext oder Nachschlagewerk die Begriffe manual und handbook, die Abgrenzung der beiden Begriffe voneinander ist aber nicht eindeutig. Das Französische kennt nur den Begriff manuel, das Deutsche nur den Begriff Handbuch. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass sich das Spektrum der Werke, die der deutsche Begriff bezeichnet, in der Moderne deutlich verändert hat.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts begannen wissenschaftliche und technische Handbücher „unhandlich“ zu werden: nunmehr erschienen unter diesem Titel ganze Buchreihen. Ermöglicht wurde dieser Wandel sicherlich durch buchgeschichtliche Veränderungen wie die Einführung der dampfbetriebenen Druckerpresse und die maschinelle Herstellung von kostengünstigem Papier. Neben diesen technologischen Veränderungen brachte die Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen andere Formen des Schreibens, Speicherns und Zirkulierens von Wissen in Lehre und wie technischer Praxis mit sich, was die Expansion von Anleitungs- respektive Referenzliteratur weiter begünstigte. Viele solcher Handbücher beschränkten sich nicht auf die reine Vermittlung von Anleitungen ─ wenn sie dies denn jemals getan hatten. Vielmehr enthielten sie in Kurzform das Essentielle einer Disziplin oder eines Fachgebiets respektive geordnete Zusammenstellungen ihrer Objekte, z. B. chemischer Substanzen oder biologischer Arten. Solche umfassenden Handbücher entstanden als Reaktion auf weitere Veränderungen in der Produktion, Zirkulation und Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Literatur, insbesondere als Reaktion auf das Aufkommen der modernen wissenschaftliche Zeitschrift als periodischer Druckform.
Leben und Nachleben von Handbüchern
Unsere Autorinnen und Autoren haben die Geschichte dieses Genres detailliert und anschaulich dargestellt und dabei auch andere Aspekte dessen beleuchtet, wie Wissen bewahrt, weitergegeben und gelehrt wird. Unsere Sammlung von Aufsätzen beginnt mit der Untersuchung der konzeptionellen und materiellen Arbeit, die mit der Entstehung von Handbüchern verbunden ist, z.B. des Kompilierens, Umschreibens und des Exzerpierens (siehe Matteo Martelli zur Alchemie in der Spätantike, Marta Hanson zu medizinischen Handbüchern in China, Federico Marcon zur Naturgeschichte im Japan der frühen Neuzeit, Mathias Grote zu enzyklopädischen Handbüchern der modernen Lebenswissenschaften und der Chemie und Anna-Maria Meister zur Architektur im Deutschland des 20. Jahrhunderts). Weiterhin beleuchten unsere Autorinnen und Autoren die Vielfalt der Arten und Weisen, in denen diese Texte gelesen und verwendet wurden, vom Buch als Artefakt in der Wissenschaft im England der frühen Neuzeit (Boris Jardine) bis hin zu rekombinanter DNA (Angela Creager) und Computerhandbüchern in den Vereinigten Staaten (Stephanie Dick). Unser Band schließt mit einer Gruppe von Beiträgen, die das facettenreiche Nachleben von Handbüchern in verschiedenen Kontexten beleuchten, von der mittelalterlichen Mathematik in China (Karine Chemla) über die frühneuzeitliche Alchemie (Jennifer Rampling) und Medizin (Elaine Leong) bis hin zu Texten der Mendelschen Genetik des 20. Jahrhunderts (Staffan Müller-Wille und Giuditta Parolini).
Leitgedanken im YouTube-Zeitalter
Unser Themenheft lädt Leserinnen und Leser dazu ein, neue Fragen zu gesichertem Wissen zu stellen. Wie werden traditionelle Praktiken und Abläufe bewahrt oder verworfen, und wie wird die Benennung und Ordnung von Objekten oder Prozessen in einer Zeit neu verhandelt, in der Nomenklaturen, Taxonomien oder Bibliographien immer schneller veralten? Im 21. Jahrhundert wird die einst allgegenwärtige Bedienungsanleitung zunehmend durch Tutorials auf YouTube abgelöst. Stellt dies eine Rückkehr zu vergangenen Praktiken oder die Wiedererfindung des Handbuchs in neuem Gewand dar? „Zur Hand“ haben wir mehr Informationen als je zuvor und dennoch fällt es uns oft schwer, gesichertes Wissen zu finden. Während die Zeit zeigen wird, wie das Internet das Lernen verändert hat und wie nicht, bleibt uns zu hoffen, dass sich diese gemeinsam verfasste Geschichte als handlicher Leitfaden erweisen wird.