Über Jahrhunderte hinweg wurde die Geschichte Afrikas und die seiner Wissenschaften vom Globalen Norden geringeschätzt oder ignoriert; Wissen, das von diesem Kontinent kam, betrachtete man im Westen als nicht „wissenschaftlich” und man ging größtenteils davon aus, dass nur westliche Wissenschaftler Wissen zu Afrika erarbeiten und verstehen könnten. Unsere Initiative „Eine afrikanische Wissens- und Wissenschaftsgeschichte jenseits akademischer Konventionen” möchte solchen Auffassungen entgegentreten. Die individuellen Forschungsprojekte der Initiative haben das Wissen zum Thema; die meisten davon werden in Sahara und Sahel durchgeführt (Algerien, Burkina Faso, Tschad, Kamerun und Niger). Drei Prioritäten stehen dabei im Zentrum der Initiative: die eine ist die, interdisziplinäre Forschung durchzuführen, die zweite, die Frage danach zu stellen, wem Wissen gehört, und bei der dritten geht es darum, das Konzept des Archivs neu zu denken.
Landwirtschaft und Sprichwort-Archiv: Wissen aus der Sahara
Zwei Projekte der Initiative widmen sich der lokalen Wissensgeschichte in der Sahara. Der Anthropologe und Archäologe Dida Badi erforscht landwirtschaftliches Wissen in den Tassili n’Ajjer Bergen in Algerien und Libyen, mit besonderem Interesse für die Kultur der Dattelpalme und für den Getreideanbau. Grundlage seiner Arbeit sind zeitgenössische Praktiken, mündliche Überlieferung und materielle Kultur, deren Wurzeln bis zur Kultur der Garamanten zurückreichen. Dieses Volk besiedelte mindestens seit dem 5. Jahrhundert BC, wenn nicht schon länger, den Fezzan im Inneren Libyens.
Mahuma Abaliy Sédiké ist ein „lokaler” Historiker der Tubu. Er arbeitet zum Wissen in den Regionen Kawar und Djado von Niger. Ohne selbst jemals eine Ausbildung an einer Universität absolviert zu haben, hat er das wissenschaftliche Werk DAGA TUDAA. Pensées Toubou: Proverbes du Sahara Central (2021) verfasst und veröffentlicht. Seine Leidenschaft, die er bei seinem Projekt eines Archivs der Tubu-Geschichte weiterverfolgt, gilt dem Wissen der Tubu und deren mündlicher Überlieferung. In mühevoller Kleinarbeit sammelt er Sprichworte, Rätsel und Märchen, schreibt diese nieder und erläutert sie der akademischen Fachwelt und Nicht-Akademikern zugleich. Mahumas Arbeit bedeutet für unser Projekt eine Öffnung hin zu Epistemologien, die sich möglicherweise von denen der „modernen” Wissenschaft vollkommen unterscheiden.
Schlangen und Böden: Lokales Wissen aus dem Sahel
Zwei weitere Projekte konzentrieren sich auf Wissen aus dem Sahel, eine Region, die im Süden an die Sahara angrenzt. Yacouba Banhoro ist Medizinhistoriker und möchte mehr dazu erfahren, wie Menschen, denen nicht die Mittel der „modernen” Medizin zur Verfügung stehen, Vergiftungen durch Schlangenbisse behandeln – ein Thema, das aufgrund des fehlenden Zugangs vieler Menschen in Afrika zu „modernen” Methoden der Behandlung solcher Vergiftungen von hoher Relevanz ist. Yacoubas Projekt, das in verschiedenen Regionen Burkina Fasos angesiedelt ist, vereint Perspektiven der Medizingeschichte, der Ethnomedizin und der Biomedizin. Insbesondere interessiert ihn, wie und warum sich die Zugänge der „modernen” Medizin und der „lokalen” Heiler unterscheiden, und wie „lokales” Wissen zur Innovation in der „modernen” Medizin beitragen könnte.
Sani Ibrahim ist Geologe und untersucht das bodenkundliche Wissen von Bauern in Zentralniger – dort, wo wegen Trockenheit und Hitze Landwirtschaft unter extremen Umweltbedingungen stattfindet, ist die Frage eines gesunden Bodens umso zentraler. Sani möchte deshalb wissen, wie Bauern vor Ort Böden verstehen, und wie sich Böden unter dem Einfluss des Menschen über die Jahrhunderte entwickelt haben. In seinem interdisziplinären Ansatz verbindet er Methoden der „modernen” Bodenkunde mit denen, die Landwirten vor Ort zur Erkundung der Böden zur Verfügung stehen. Daraus sollen dann Landkarten zum „lokalen” bodenkundlichen Wissen entstehen.
Wissenschaft und Wissen in der afrikanischen Linguistik und der Archäologie
Ein weiterer Pfeiler unserer Initiative stellen die Arbeiten von zwei Fellows dar, die am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin arbeiten. Emmanuel Ngue Um ist Linguist aus Kamerun, der epistemische, theoretische und methodologische Zugänge exploriert, um die afrikanische Linguistik zu rekalibrieren. Er möchte hin zu einer innovativen Linguistik, welche Sprachen in ihren sozialen und kulturellen Dynamiken untersucht. Emmanuels Ziel ist es, starre epistemische Konzepte, die vom Kolonialismus konstruiert wurden, neu zu denken, hin zu einer Fluidität, die für vorkoloniale Räume charakteristisch war.
Dijmet Guemona schließlich ist ein Archäologe aus Tschad mit besonderem Interesse für die vorindustriellen Eisenverhüttung in der Region Guéra. Dabei geht er auch der Frage nach, wie die Entwicklung von Eisengeräten die Landwirtschaft der Region beeinflusste. Djimet vereint bei seiner Forschung die Untersuchung materieller Kultur und die Analyse mündlicher Überlieferung. Dazu befragt er Wissens-Halter der Region zu Praktiken der Eisenverhüttung und der Landwirtschaft, um so die archäologischen Ergebnisse durch Elemente des kollektiven Gedächtnisses zu ergänzen.
Wie Buchstaben im Sand…
Zusammen versuchen alle Projekte unserer Initiative drei Ziele zu erreichen, um eine afrikanische Wissens- und Wissenschaftsgeschichte jenseits akademischer Konventionen zu verwirklichen. Erstens formulieren Dida, Mahuma, Yacouba, Sani, Emmanuel und Djimet die Frage neu, wem Wissen gehört und wie es zum „Besitz” an Wissen kommt. Ihre Zugänge konzentrieren sich dabei auf „lokales” Wissen, das sie als zentral für ihre Arbeit anerkennen. Zweitens arbeiten sie auf entschieden inter- und transdisziplinäre Weise, indem sie „lokales” Wissen mit „modernen” wissenschaftlichen Disziplinen kombinieren. Und drittens bewegen sie sich bei ihrer Untersuchung von materieller Kultur, oralen Traditionen, Heiler-Wissen, Böden und Sprache weg von der Idee eines Archivs als Aufbewahrungsort von Schriftstücken. Begeistert arbeiten sie zusammen an einem innovativen und dynamischen Archivbegriff, der sich jederzeit ändern kann, so wie der Wüstenwind die Tifinagh-Buchstaben verweht, die der alte Mann für uns in den Sand gezeichnet hatte.
Die Prioritäten der Initiative werden auch in Vorträgen zu Wissen und Wissenschaft vorgestellt. Themen dieser Vorträge reichen von Bienen und der Ökologie in Kamerun über Bodenschätze und Nachhaltigkeit in Nigeria bis hin zur Bildungslandschaft in Tschad. Die Vorträge fanden bzw. finden 2023 und 2024 statt und richten sich an ein breites Publikum.