1537 veröffentlichte Nicolò Tartaglia (1500–1557), ein Mathematiker aus Brescia, sein Buch Nova Scientia, das die moderne Wissenschaft der Ballistik begründete. Tartaglias Absicht war es, auf Grundlage von Axiomen, die für den gesamten Bereich der Mechanik elementar waren, eine rein mathematische Wissenschaft zu entwerfen. Ausgehend von einer begrenzen Anzahl an Prinzipien wollte er durch ein strenges Ableitungsverfahren eine Reihe von Theoremen gewinnen. Dennoch war sein Motiv, wie Tartaglia selber bemerkt, im Wesentlichen praktischer Natur und mit der Tätigkeit des Kanoniers im 16. Jahrhundert verbunden. Die Neuausgabe von Nicolò Tartaglias Nova scientia, die auf der erweiterten zweiten Ausgabe von 1550 in der Auflage von 1558 beruht, zeigt, dass das Entstehen der theoretischen Ballistik eine Folge der technischen Innovationen im Zusammenhang mit dem Verfahren des Eisengusses an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert war.
Die Rekonstruktion des Entstehungsprozesses der modernen Ballistik auf der Grundlage von Nicolò Tartaglias Arbeit wirft Licht auf die Beziehung zwischen praktischem und theoretischem Wissen innerhalb der frühen modernen vorklassischen Mechanik. Insbesondere zeigt sie, wie praktisches Wissen die Agenda theoretischer Forschung bestimmte und wie theoretische Ansätze dann zu einem kohärenten Verständnis der zuvor gesammelten Erfahrungen führten.
Diesem Zugang entsprechend, der den technischen Kontext, in dem die Nova scientia und ihr Autor stehen, sorgfältig berücksichtigt, bietet die Neuausgabe eine englische Übersetzung (von Matteo Valleriani, Lindy Divarci und Anna Siebold) des gesamten Werkes. In der früheren Übersetzung von Stillman Drake und I. E. Drabkin (1969) fehlt das gesamte dritte Buch, das noch mehr als die anderen beiden die Verbindungen zwischen Tartaglias Wissenschaft und dem praktischen Wissen seiner Zeit zeigt. Außerdem basiert diese Neuausgabe nicht auf der ersten Ausgabe des Werkes von 1537, sondern auf der erweiterten zweiten Ausgabe von 1550 in der Auflage von 1558. In der zweiten Ausgabe ergänzte Tartaglia das dritte Buch und einige Theoreme der anderen beiden Bücher in wichtigen Punkten. Die Auflage von 1558 bietet zudem einen Text, der durch kurz nach Tartaglias Tod vorgenommene typografische Verbesserungen verständlicher gemacht wurde. Änderungen zwischen den Ausgaben, die den Inhalt betreffen, sind systematisch mit Anmerkungen versehen.
Die erste Theorie der Ballistik kam zu dem wichtigen Ergebnis, dass die maximale Reichweite einer Kanone erreicht wird, wenn deren Elevationswinkel 45 Grad über dem Horizont beträgt. Im Text stützte Tartaglia seine Hauptergebnisse auf eine Reihe von Versuchen mit Kanonen. Diese Versuche resultierten umgekehrt aus einem Streit unter Kanonieren, den Tartaglia, der sich als eine Art Schiedsrichter vorstellt, theoretisch löste. Tatsächlich legte Tartaglia ein theoretisches Raster auf das fragliche physikalische Problem, genau gesagt die aristotelische Dynamik, die zu seiner Zeit das einzige verfügbare theoretische Raster war. Nachdem er eine Möglichkeit gefunden hatte, das Problem zu vereinfachen, indem er die Frage der Reibung ausklammerte, nutzte Tartaglia per Definition die aristotelischen Begriffe von natürlicher und gewaltsamer Bewegung.
Tartaglia schnitt die Flugbahn der Kanonenkugeln in verschiedene Teile und identifizierte diese dann mit den beiden unterschiedlichen Arten von Bewegung, die sein Begriffsapparat zur Verfügung stellte. Die darauf beruhende Theorie der Ballistik war im Wesentlichen eine Analyse des Anteils an der Flugbahn, der der gewaltsamen Bewegung zugeordnet war. Auf der Grundlage dieses Verfahrens konnte Tartaglia nicht nur in Bezug auf die maximale Reichweite quantitative Schlüsse ziehen, sondern auch in Bezug auf die Schwankungen in der destruktiven Kraft von Kanonenschüssen in Abhängigkeit von der Entfernung zwischen Ziel und Kanone sowie von der Elevation des Geschützes.
Die Versuche mit Kanonen, von denen Tartaglia in seinem Werk berichtet, stehen symbolisch für den Hintergrund, vor dem die neue Wissenschaft der Ballistik entstand. Wie bereits von verschiedenen Forschern dargelegt, bestand das Hintergrundwissen, das mit dem Entstehen der theoretischen Ballistik verbunden war, zweifellos aus den Erfahrungen von Artilleristen und Kanonieren.
Als Tartaglia seine Abhandlung schrieb, gab es allerdings bereits seit mehr als einem Jahrhundert Waffen, die Schießpulver als Treibmittel verwendeten. Tatsächlich kann Tartaglias theoretischer Ansatz historisch nicht allein auf die Verbreitung von Feuerwaffen zurückgeführt werden. Das Ziel, die Reichweite und destruktive Kraft von Geschützen durch die Untersuchung gewaltsamer Bewegung zu erforschen, konnte erst erreicht werden, als die Feuerwaffen begannen, entlang desjenigen Teils der Flugbahn, den Tartaglia mit gewaltsamer Bewegung gleichsetzte, größere Wirkungen zu erzielen. Bis Ende des 15. Jahrhunderts war das fast nie der Fall gewesen. Bis dahin feuerte die schwere Artillerie große, schwere Kanonenkugeln so hoch wie möglich, und sie vollbrachten dann die gewünschte Zerstörung mit dem Fall, das heißt entlang des Teils der Flugbahn, die Tartaglia mit dem aristotelischen Begriff von natürlicher Bewegung gleichsetzte.
Am Ende des 15. Jahrhunderts begann die Produktion von gusseisernen Kanonenkugeln. Das bedeutete, dass die Größe der Geschütze reduziert werden konnte, jedoch bei einem enormen Zuwachs an destruktiver Kraft. Auch die Geschwindigkeit der Schüsse nahm deutlich zu. Tatsächlich erklären erst die Schusswaffen, die nach der Einführung dieser metallurgischen Innovation gebaut wurden, das Entstehen der modernen Ballistik. Die Verbindung zwischen den mit dieser Art von Geschützen gesammelten Erfahrungen und dem theoretischen Zugang zu solchen Erfahrungen besteht letztlich im Gebrauch des Quadranten für Kanoniere, der schon lange, bevor Tartaglia sein Werk veröffentlichte, in Gebrauch war. Dieses Instrument, mit dem ursprünglich die Werte einzelner Schüsse gemessen wurden, ist das Vehikel des Entstehungsprozesses einer neuen Theorie, die umgekehrt verwendet wurde, um die vorher gesammelte Erfahrung zu beschreiben und zu erklären. Es wurde vom praktischen Instrument zum Ausdruck eines theoretischen Zugangs.
Der Band wird in der Reihe Sources der Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge erscheinen. Diese Reihe präsentiert historische Dokumente in einem neuen Format, das die Vorteile traditionellen Buchdrucks mit denen des digitalen Mediums verbindet. In diesem Band wird der Text zusammen mit einer Einleitung, der Transkription und der kommentierten englischen Übersetzung im Faksimile reproduziert. Er wird als Print-on-Demand-Buch und im Internet als Open-Access-Publikation verfügbar sein. Das Material wird online auf www.edition-open-access.de zugänglich gemacht.