Die Gleichgewichtskontroverse beschäftigte sich mit der Frage, ob eine einmal ausgelenkte Waage wieder in ihren Gleichgewichtszustand zurückkehrt. Diese scheinbar triviale Frage hat seit der griechischen Antike Philosophen und Wissenschaftler zum Nachdenken angeregt. Nach nahezu zwei Jahrtausenden wurde sie schließlich im 16. Jahrhundert zum zentralen Gegenstand der Werke von Wissenschaftlern wie Guidobaldo del Monte und Giovanni Battista Benedetti. Als Ergebnis einer langfristigen Wissensentwicklung kristallisierte sich schließlich eine zentrale Einsicht mechanischen Wissens heraus – das Verständnis der lagebedingten Wirkung eines Gewichts oder einer Kraft. Moderne Begriffe wie „Drehmoment“ oder „potentielle Energie“ haben ihren Ursprung in dieser Entwicklung, die bis in die Antike zurückreicht und ihren Höhepunkt in der Gleichgewichtskontroverse der Renaissance fand.
Waagen symbolisieren seit dem Altertum Gerechtigkeit und Gleichgewicht. In diesem übertragenen Sinne sind Ausgewogenheit und Gleichgewicht entscheidend für die conditio humana, doch wie steht es mit der Waage im Wortsinne und mit ihrem Gleichgewicht? Bleibt eine Waage, deren Balken aus seiner normalen waagerechten Gleichgewichtsposition gelenkt wurde, in der ausgelenkten Position, schwingt sie in ihre Ausgangsposition zurück oder neigt sie sich in die Senkrechte? Offensichtlich ist diese Frage weder von unmittelbarer praktischer Relevanz noch von grundlegender Bedeutung für die conditio humana. Dennoch wurde sie zur Schlüsselfrage einer Kontroverse unter Wissenschaftlern im 16. Jahrhundert. Eine endgültige Antwort auf diese Frage lieferte jedoch erst die Begründung der klassischen Physik im 18. und 19. Jahrhundert – und selbst dann gab es immer noch Aspekte, die heftige Debatten und weitere begriffliche Entwicklungen auslösten.
Was machte es so schwierig, diese Frage zu klären? Lässt sie sich nicht anhand ein paar einfacher Experimente entscheiden? Diese Nachfragen legen grundsätzliche Überlegungen zum Fortschritt der Physik nahe. Es zeigt sich insbesondere, dass die historische Entwicklung der Physik mit einem Begriffswandel einhergeht, durch den Grundbegriffe wie „Kraft“, „Gewicht“, „Schwerpunkt“ und „Drehmoment“ erst ihre heutige Bedeutung erhalten haben. Aus der Sicht einer historischen Epistemologie wissenschaftlichen Wissens spielen einfache physikalische Probleme, wie sie im Rahmen der Gleichgewichtskontroverse aufgetreten sind, eine Schlüsselrolle für diesen begrifflichen Wandel. Darüber hinaus zeigt sich, dass dieser Wandel kein linearer und isolierter Prozess war. Er war vielmehr von umfassenden Neustrukturierungen ganzer Wissenssysteme begleitet.
Die klassische Mechanik wird häufig als das reinste, abstrakteste und rationalste aller Teilgebiete der Physik betrachtet. Das legt die Vermutung nahe, dass es sich auch bei ihrem Entstehungsprozess im Wesentlichen um die Geschichte eines linearen Fortschritts oder zumindest der steten Wissensanhäufung gehandelt haben muss. Ungeachtet etwaiger Unterbrechungen und Abweichungen zielte dieser Prozess scheinbar darauf ab, eindeutige begriffliche Grundlagen zu schaffen, die auf der Betrachtung idealisierter Objekte wie der Waage basierten.
Verfolgt man jedoch die Gleichgewichtsdebatte in ihre historischen Tiefendimensionen, so fällt dabei besonders ins Auge, welche Rolle historische Zufälle für die begriffliche Entwicklung von Grundlagen in der Mechanik gespielt haben. Zunächst einmal hängt die Frage, welche materiellen Zusammenhänge überhaupt zum Gegenstand gemacht werden, von historischen Zufällen ab, die der Mechanik selbst äußerlich sind. In der frühen Neuzeit war es insbesondere die zeitgenössische Technik, die der Wissenschaft herausfordernde Objekte wie das Pendel, die Wurfbewegung, oder die schiefe Ebene vorgab. Darüber hinaus spielen natürlich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Wissen aufgezeichnet, weitergegeben und angeeignet wird, eine Schlüsselrolle. Auch sie zeichnen sich durch eine unvermeidliche Kontingenz aus, zu denen auch die Verluste und Missverständnisse gehören, die in solchen Prozessen stattfinden. Überraschenderweise zeigt es sich jedoch, dass solche Verluste und Missverständnisse nicht nur Stolpersteine auf einem ansonsten glatten Weg zu endgültiger Klarheit darstellen, sondern dass gerade auch historische Verluste in hohem Maße die Entwicklung des mechanischen Wissens und damit unser heutiges Verständnis geprägt haben.
Im Jahr 2006 hat die Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte eine Erstausgabe von Giovanni Battista Benedettis Diversarum speculationum mathematicarum et physicarum liber (1585) erworben. Bereits für sich genommen stellt Benedettis Buch eine wichtige Quelle zum Verständnis der Bemühungen frühneuzeitlicher Wissenschaftler-Ingenieure dar, das heterogene Erbe antiken Wissens und insbesondere die Theorien von Aristoteles und Archimedes in eine sinnvolle Beziehung zu einander und zum zeitgenössischen mechanischen Wissens zu bringen. Doch das Exemplar, das das Institut erworben hat, ist für unser historisches Verständnis dieser Zusammenhänge von besonderem Wert. Denn es zeichnet sich dadurch aus, dass es handschriftliche Randbemerkungen des führenden Mechanikexperten aus der Generation vor Galileo enthält, von Guidobaldo del Monte, dem Verfasser des wichtigsten Renaissancewerks zur Mechanik, des Mechanicorum liber (1577).
Guidobaldos Randnotizen dokumentieren seine fundamentale Kritik an Benedettis Theorie, die sich auf die Kernfrage der Gleichgewichtskontroverse konzentriert: das Verhalten einer aus dem Gleichgewicht gebrachten Waage. Doch hinter dieser Kontroverse lag eine tiefer gehende begriffliche Krise der zeitgenössischen Mechanik. Sie wurde durch die Einführung – auf der Grundlage mittelalterlicher Quellen – eines neuen Begriffs verursacht, des Begriffs des positionsabhängigen Gewichts (gravitas secundum situm). Der Einbau dieses, zunächst einmal ambivalenten, Begriffs in die Theoriegebäude neuzeitlicher Mechanik wurde zur Voraussetzung grundlegender Erkenntnisse, auf denen Galileo schließlich seine Mechanik sowie seine Bewegungslehre aufbaute. Durch diese Entwicklung kam es zu verschiedenartigen und höchst kontroversen Versuchen, die antiken Begriffe von „Kraft“ und „Schwere“ im Kontext einer kausalen Interpretation von Bewegung durch modifizierte Begriffe zu ersetzen, die man vor allem einsetzte, um sich mit den komplexeren technischen Erfahrungswerten der Frühen Neuzeit zu befassen.
Die gegensätzlichen Standpunkte von Guidobaldo und Benedetti, wie sie Guidobaldos Randbemerkungen zu Benedettis Mechanik zu entnehmen sind, betreffen Kernprobleme der Transformation antiken Wissens. Vor allem Galileos Bewegungslehre entlang schiefer Ebenen sowie viele andere seiner charakteristischen Themen, wie die Bewegung eines Pendels, Geschossbahnen, der freie Fall und selbst das kopernikanische Weltbild waren direkt oder indirekt mit der Gleichgewichtskontroverse verbunden. Galileos neue Wissenschaft der Bewegung hätte sich ohne die von Benedetti übernommenen und in der Auseinandersetzung mit Guidobaldo geschärften Erkenntnisse vermutlich nicht in der uns bekannten Form entwickelt.
In einer Publikation untersuchen Peter Damerow und Jürgen Renn ausführlich diese Kontroverse. The Equilibrium Controversy: Guidobaldo del Monte‘s Critical Notes on the Mechanics of Jordanus and Benedetti and their Historical and Conceptual Background (2012) präsentiert Forschungsergebnisse aus dem Projekt „Mental Models in the History of Knowledge: The Relation of Practical Experience and Conceptual Structures in the Emergence of Science“ und wertet zwei neue Quellen im Kontext der Gleichgewichtskontroverse aus. Bei der ersten Quelle handelt es sich um Benedettis Diversarum speculationum mathematicarum et physicarum liber mit den Anmerkungen del Montes und bei der zweiten um eine ebenfalls durch del Monte annotierte Ausgabe von Jordanus de Nemores Liber de ponderibus (Apians Ausgabe von 1533).
Diese ausführlich kommentierte Quellenausgabe ist als Band 2 in der Reihe Sources der Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge erschienen. Diese Reihe präsentiert historische Quellen in einem neuem Format, das die Vorteile herkömmlicher gedruckter Bücher mit denen des digitalen Mediums vereint. Jeder Band dieser Reihe enthält die Reproduktion, üblicherweise als Faksimile, eines für die Wissensgeschichte wichtigen Quellentextes zusammen mit einer Texteinführung und originären wissenschaftlichen Kommentaren. Die Bände der Max Planck Research Library sind sowohl als Print-on-Demand-Bücher als auch als Open-Access-Publikation im Internet erhältlich. Die Quellen und Forschungsergebnisse mit weiteren Informationen und interaktiven Features sind online frei zugänglich unter www.edition-open-access.de. Bei den in dieser Reihe reproduzierten Originalwerken handelt es sich im Allgemeinen um Buchraritäten oder Manuskripte, die in Bibliotheken nicht ohne Weiteres zugänglich sind.