In vielerlei Hinsicht ist dies nichts Neues. Wissenschaftler*innen und andere Expert*innen sind schon seit langem gefordert, gesellschaftliche Gruppen bei der Bewältigung unerwarteter Herausforderungen und bei der Vorbereitung auf drohende Gefahren zu unterstützen. Doch offenbar erleben wir gerade außergewöhnlich unruhige Zeiten. Annahmen über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die auch von Wissenschaftshistoriker*innen als gegeben betrachtet wurden, können nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Angesichts eines Vormarsches autoritärer Regime und einer zunehmenden Wissenschaftsskepsis wird heute vor allem der enge Zusammenhang zwischen liberaler Demokratie und moderner Wissenschaft in Zweifel gezogen. Zur Umwelt-, Gesundheits-, Sicherheits- oder Wirtschaftskrise hinzu kommt daher auch eine Krise darüber, ob wir auf Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses der uns umgebenden Welten kollektive Maßnahmen zu ergreifen imstande sind.
Wissensbildung, Zusammenleben
Die 2022 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) gegründete Abteilung „Knowledge Systems and Collective Life“ betrachtet diese politisch-epistemologische Krise sowohl als Herausforderung als auch als Chance für die Wissenschaftsgeschichte und damit zusammenhängende Disziplinen.
Bisher war die Forschung zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik vor allem auf die Frage gerichtet, in welcher Form Wissenschaftler*innen und ihre Erkenntnisse Gesetze und Vorschriften beeinflusst und wie sich Regierungen und Ideologien auf Wissenschaftspraktiken ausgewirkt haben. Zwar sind dies wichtige Themenfelder, doch bilden sie nur einen Bruchteil der unzähligen alternativen Möglichkeiten ab, wie gesellschaftliche Gruppen im Lauf der Geschichte Wissensbildung und die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens miteinander verknüpft haben. Viele dieser alternativen Wissens- und Beziehungsformen sind zwar informeller, lokaler und alltäglicher, doch keinesfalls weniger wichtig als die der modernen Wissenschaft und Politik. Die moderne Wissenschaft selbst basiert auf verschiedenen Formen des Verständnisses von Umwelten, Körpern und sogar des gesamten Kosmos, genauso wie auch die moderne Politik auf zahlreichen alternativen Formen der Machtverteilung und kollektiven Entscheidungsfindung beruht. Lassen wir diese anderen Möglichkeiten außer Acht, laufen wir nicht nur Gefahr, wesentliche Teile der Geschichte auszuklammern, sondern auch die gegenwärtige Krise des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik misszuverstehen.
Die Wissenschaftler*innen der Abteilung nutzen daher historische und ethnografische Methoden, um häufig missachtete oder marginalisierte Akteur*innen, Perspektiven und Traditionen zu berücksichtigen. Neben der modernen Wissenschaft befassen wir uns mit anderen Wissenssystemen, auf denen sie aufbaut, mit denen sie im Wettstreit steht oder die sie verdrängen will und die jeweils über eine ganz eigene soziale Organisation, materielle Kultur und spezielle Standards der empirischen Evidenz und Argumentation verfügen. Wir untersuchen auch Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens außerhalb der klassischen Politik – in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen, Wissenschaftsverbänden und transnationalen Netzwerken. Wir setzen uns ausführlich mit den Beteiligten des gesellschaftlichen Zusammenlebens auseinander, in dem Bewusstsein, dass ein Zusammenleben – politisches Leben im weitesten Sinne – nicht ohne den Beitrag von Tieren, Pflanzen, Pilzen, Viren, Bakterien und anderen Nicht-Menschen möglich wäre.
Umweltkrise, Vertrauen in die Wissenschaft und Datenpolitiken
Unsere Forschung konzentriert sich auf drei Themenfelder. Erstens geht es um den Einfluss von Krisen auf die Art der Produktion von Umweltwissen. Die Wissenschaft muss ohne Frage eine zentrale Rolle bei der Bewältigung des Klimawandels, des Verlusts der biologischen Artenvielfalt, der Verschmutzung mit toxischen Substanzen und anderer Umweltprobleme übernehmen. Doch wie verändert sich die Wissenschaft selbst angesichts einer Krise? Inwieweit wandelt sich ihr Verhältnis zu anderen Wissenssystemen? Diesen Fragen gehen wir nach und setzen uns dabei auch kritisch mit dem Konzept der Krise auseinander, die häufig als Argument herangezogen wird, um abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen und zeitliche Handlungsrahmen einzuschränken.
Der zweite Themenbereich betrifft das Vertrauen in die Wissenschaft. Häufig ist zu hören, das Vertrauen in die Wissenschaft sei in den letzten Jahren zusammen mit dem Vertrauen in die Regierung und die Presse gesunken. In unserer Forschung stellen wir Verschwörungstheorien, alternative Fakten und andere zeitgenössische Ausdrucksformen des Misstrauens in einen langfristigen, vergleichenden Kontext. Dabei betrachten wir Vertrauen nicht als isoliertes Phänomen. Vielmehr wollen wir nachvollziehen, wie durch die von der Wissenschaft geförderten Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der Wissensbildung Bedingungen geschaffen wurden, in denen Vertrauen steigen oder sinken kann. In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch ernsthaft mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass Misstrauen in einigen Fällen durchaus eine Berechtigung hat.
Im letzten Themenbereich erforschen wir Datenpraktiken und -politiken. Daten sind eine wichtige Ressource für Wissenschaft und Politik, können aber auch Skepsis und Kontroversen hervorrufen. Über die Untersuchung der Produktion und Nutzung von Daten wollen wir einen Einblick in zentrale Themen der historischen Epistemologie – wie die Entwicklung neuer Forschungsgegenstände und materielle Praktiken der Wissensproduktion – sowie in die Geschichte von Eigentum, Arbeit, Souveränität, Rechten und Repräsentation gewinnen. Wie auch bei den vorangehenden Forschungsthemen behalten wir dabei auch diejenigen historischen Akteur*innen im Blick, die häufig missachtet oder marginalisiert wurden.
Oral History, experimentelle Medien und partizipative Forschung
Die Abteilung beabsichtigt darum, Methoden und Quellen zu erschließen, um diese umfassenderen, inklusiveren Versionen der Geschichte erzählen zu können. Unkonventionelle, marginalisierte oder oppositionelle Formen der Wissensgewinnung und der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden in offiziellen Archiven und Veröffentlichungen – wenn überhaupt – häufig falsch dargestellt. In mündlichen Überlieferungen, persönlichen Erinnerungen und informellen Archiven findet sich dagegen eine ganze Fülle von Informationen zu diesen Themen. Um Forschende bei der Suche nach derartigen Quellen zu unterstützen, bauen wir ein Labor auf, das Schulungen, technische Ausstattung und einen speziellen Arbeitsbereich für Oral History-basierte Projekte und multimodale Forschung verfügbar macht.
Darüber hinaus planen wir den Aufbau von Kooperationsbeziehungen mit nicht-wissenschaftlichen Organisationen, verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen, die über einschlägiges Wissen aus der Vergangenheit verfügen und sich in ihrem Alltag mit den Auswirkungen dieser Vergangenheit konfrontiert sehen. Wir wollen auf diese Weise einen Begegnungspunkt für Menschen bieten, die sich um ein besseres Verständnis der Beziehungen zwischen Wissenssystemen und gesellschaftlichem Zusammenleben bemühen. Kooperationen dieser Art sind für die Umsetzung der Forschungsziele der Abteilung von grundlegender Bedeutung und können dazu beitragen, einen Weg durch die politisch-epistemologischen Unsicherheiten der Gegenwart zu ebnen.