Forschungsthemen

Indisches Brettspiel Pretwa. Quelle: Sandra Prengel, 2024.

Nr 88
Geschichten von Himmelskörpern: Übertragung, Verlagerung und Transkreation von astralem Wissen in Asien

 

„Stellen Sie sich einmal vor, Sie blicken in den tiefschwarzen Nachthimmel, der von einem weiten Sternenteppich bedeckt ist,“

sagte der Leiter der neuen Forschungsgruppe „Astral Sciences in Trans-Regional Asia“ (ASTRA) am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG), Anuj Misra, beim Launch der Gruppe im Oktober 2024. 

„Haben Sie sich jemals gefragt, welche Geschichten diese Himmelkörper erzählt, welche Kulturen sie geprägt und welche Zivilisationen sie inspiriert haben?“

 

Introduction by Research Group Leader Anuj Misra at the ASTRA opening reception. Source: Sandra Prengel, 2024.

01: Eröffnungsrede des Forschungsgruppenleiters Anuj Misra beim ASTRA Launch. Quelle: Sandra Prengel, 2024.

Natürlich habe ich das, würden viele Misra darauf erwidern. Auch die Direktorin des MPIWG, Dagmar Schäfer, griff das Thema in ihrer Begrüßungsrede auf. Sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind in einer für ihre dunklen Himmel bekannten Region in Westdeutschland lernte, sich an den Sternen und am Mond zu orientieren. Doch als sie 1989 nach Peking ging, musste sie die Erfahrung machen, dass ihr dieses Spezialwissen nicht weiterhalf. In der Großstadt waren keine Sterne am Himmel zu sehen und die Menschen am Boden verließen sich eher auf die vier Himmelsrichtungen Norden, Süden, Osten und Westen als auf lokale Orientierungspunkte oder Himmelskörper.

Damals erkannte Schäfer, dass sich Menschen an verschiedenen Orten der Welt auf ganz unterschiedliche Weise nach dem Himmel richten und dass sich diese Besonderheiten der räumlichen Wahrnehmung darin zeigen, in welcher Form verschiedene Kulturen die Himmelsbeobachtung in ihr Weltbild integriert haben.

 

Welcome speech by Dagmar Schäfer at ASTRA opening reception. Source: Sandra Prengel, 2024.

02: Willkommensrede von Dagmar Schäfer bei der ASTRA Eröffnungsveranstaltung. Quelle: Sandra Prengel, 2024.

Die Geschichte des astralen Wissen in asiatischen Diskursen

Eben dieser Frage widmet sich die Forschungsgruppe ASTRA: Wie haben sich verschiedene Kulturen in Asien über Zeit und Raum mit astronomischem Wissen auseinandergesetzt? Dafür legt ASTRA in einem neuartigen Ansatz den Schwerpunkt auf kreative Übertragungen und transkulturelle Bewegungen, um aus transregionaler Perspektive die reichhaltige und vernetzte Geschichte der Astralwissenschaften in Asien in drei zentralen Themenbereichen—Übertragung, Verlagerung und Transkreation—zu beleuchten. In diesen miteinander verbundenen und häufig ineinander übergreifenden Bereichen geht es um die Frage, auf welchen Wegen astrales Wissen in Asien im Verlauf der Geschichte übermittelt, transportiert und integriert wurde.

 

Research Group Leader Anuj Misra during his keynote speech at the MPIWG Research Group “Astral Sciences in Trans-Regional Asia” (ASTRA) launch event. Source: Sandra Prengel, 2024. ASTRA logo in the background by Anuj Misra, 2024.

03: Forschungsgruppenleiter Anuj Misra während seiner Keynote zum Launch der MPIWG Forschungsgruppe „Astral Sciences in Trans-Regional Asia“ (ASTRA). Quelle: Sandra Prengel, 2024. ASTRA Logo im Hintergrund von Anuj Misra, 2024.

Übertragung: die intellektuelle Kluft überwinden

Im Bereich Übertragung setzen sich Forschende der Gruppe mit der Frage auseinander, wie astrales Wissen im Verlauf der Geschichte zwischen verschiedenen asiatischen Kulturen übermittelt wurde. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Übermittlung leisteten linguistische Strukturen, logische Rahmen, künstlerische Ausdrucksformen und technische Fertigkeiten als intellektuelle Hilfsmittel. Dazu gehören beispielsweise die Entscheidungen von Astronom*innen über die sprachlichen Bezeichnungen, mit denen sie ihr Wissen übermittelt haben. Als der Hindu-Astronom Nityānanda im 17. Jahrhundert zum ersten Mal auf den ptolemäischen Äquanten stieß—einen imaginären Punkt, von dem aus sich ein Planet auf seinem Epizykel gleichförmig bewegt—gab er ihm den Namen abhicāra-kendra, „Zentrum der Magie.“

Forschende können sich mit Hilfe dieser sprachlichen Elemente ein genaueres Bild davon machen, wie asiatische Gesellschaften Konzepte vom Himmel entworfen, Astronomiemodelle entwickelt und ihr Wissen über den Nachthimmel angewandt haben.

Jacob Schmidt-Madsen showcasing board game manuscript posters. Source: Sandra Prengel, 2024.

04: Jacob Schmidt-Madsen stellt Manuskripte von Brettspielen vor. Quelle: Sandra Prengel, 2024.

Verlagerung: über physische und zeitliche Grenzen hinweg

Der zweite Themenbereich Verlagerung beschäftigt sich mit den Spuren, den physischen und zeitlichen Bewegungsabläufen von astralem Wissen auf dem asiatischen Kontinent. Forschende der Gruppe untersuchen, wie dieses Wissen zwischen verschiedenen Orten, über geografische und sogar zeitliche Grenzen hinweg gewandert ist. 

Anhand der Verbreitung von Holzschnitten im kaiserlichen China des zweiten Jahrtausends v. u. Z. können wir nicht nur die physischen Bewegungen der Druckstöcke und die geografische Verbreitung der mechanischen Reproduktionen nachvollziehen, sondern auch die faszinierenden Veränderungen der Drucktechnik und der gesellschaftlichen Ansprüche, die sich mit der Zeit vollzogen haben. Mit unserer Forschungsarbeit haben wir die Möglichkeit, die häufig verborgenen Pfade, die wechselnden physischen Medien und die vorhandenen institutionellen Netze zu ermitteln, die diesen Bewegungen zugrunde lagen.

 

Astral board game manuscript posters. Source: Sandra Prengel, 2024.

05: Manuskripte astraler Brettspiele. Quelle: Sandra Prengel, 2024.

Transkreation: das Fremde vertraut machen

Im Themenbereich Transkreation setzen sich Forschende der Gruppe mit der Frage auseinander, wie verschiedene Kulturen in Asien das Fremde vertraut gemacht und migriertes Wissen in neuen kulturellen Landschaften in ganz Asien erschlossen haben. Die Forschungsgruppe erkundet die Übernahme von astralem Wissen als einen fortschreitenden Dialog zwischen Erhalt und Anpassung, als Prüfung von und Auseinandersetzung mit externen Ideen innerhalb des eigenen kulturellen Kontextes, um auf diese Weise neue Erkenntnisse über die kreativen Mechanismen zu gewinnen, die der Transformation des astralen Wissens in Asien zugrunde lagen. 

Dazu gehört beispielsweise die Frage, wie islamisch geprägte astronomische Vorstellungen Einzug in die Welt des Sanskrit-Mittelalterdiskurses gehalten haben und in einem komplexen Prozess durch das Zusammenspiel von Sprache, Kultur und Identität assimiliert wurden. In dieser neuen Welt hat wiederum das Wissen über den Himmel das astrale Sanskritwissen im frühneuzeitlichen Indien entscheidend geprägt.

 

ASTRA research group thematic domain posters—”Transmission,” “Translocation,” “Transcreation.” Source: Sandra Prengel, 2024.

06: Aufsteller zu Themenbereichen der ASTRA Forschungsgruppe—„Übertragung,“ „Verlagerung,“ „Transkreation.“ Quelle: Sandra Prengel, 2024.

Forschungsprojekte und Arbeitsgruppen

Zur Erkundung derartiger Phänomene in den Themenbereichen Übertragung, Verlagerung und Transkreation koordiniert ASTRA verschiedene Forschungsprojekte und mehrere Arbeitsgruppen. Zum Beispiel das Forschungsprojekt „Rolling the Planets, Moving the Heavens“ von Postdoktorand Jacob Schmidt-Madsen. Anhand einer Kulturanalyse dreier Sanskrittexte zu Wissensspielen aus dem 19. Jahrhundert, die bisher nicht veröffentlicht oder übersetzt wurden, will es untersuchen, wie lebendige Spieltraditionen als Wissen kodifiziert und in einen Dialog mit den Astralwissenschaften gebracht wurden.

 

Indian board game Pretwa. Source: Sandra Prengel, 2024.

07: Indisches Brettspiel Pretwa. Quelle: Sandra Prengel, 2024.

Gemeinsam mit Kolleg*innen und externen Partner*innen beteiligen sich die ASTRA-Mitglieder auch an Arbeitsgruppen, die sich mit der Umsetzung von astralem Wissen und dem Erhalt mehrerer wertvoller Schriftensammlungen aus aller Welt befassen. Diese Schriften geben Aufschluss darüber, wie das Wissen über den Himmel im Verlauf der Geschichte stets regionale und kulturelle Grenzen überwunden hat. 

Über die Auseinandersetzung mit diesen drei Themenbereichen kann ASTRA neue Forschungsansätze in der Himmelskunde erschließen und auf diese Weise tiefergehende Erkenntnisse über die kreativen Mechanismen gewinnen, die den Astralwissenschaften auf dem gesamten asiatischen Kontinent zugrunde lagen. Wenn Sie also das nächste Mal vor die Tür treten und in den Nachthimmel blicken, denken Sie vielleicht auch daran, wie die Sterne, die Planeten und die Monde unsere Leben, Kulturen und sozialen Beziehungen seit Jahrtausenden geprägt haben.