Forschungsthemen

Abb. 1: Transkription eines Reisstärlinglieds von Ferdinand S. Mathews (1904), Field Book of Wild Birds and  eir Music: A Description of the Character and Music of Birds. New York: Putnam, S. 51.

Nr 47
Wissenschaftliche Ergebnisse und musikalische Ohren: Klangdiagramme von Feld-Tonaufnahmen
In seinem aktuellen Projekt untersucht Joeri Bruyninckx, wie Wissenschaftler bei der Aufnahme von Vogelstimmen in der Vergangenheit mit Musikern und Rundfunkleuten zusammengearbeitet haben.

Tsit-tsit-tsit-schit-schit-schitsu-schitsurria! Solche unsinnigen Silben werden traditionell verwendet, um das einfache Lied des Buchfinken einzufangen, häufig zur Verzweiflung von Anfängern der Vogelbeobachtung ebenso wie von sachkundigen Ornithologen. Schließlich darf es nicht mit dem Tülip-tülip-tülip tschidi-trü tschidi-trü tschidi-trü didi-didi-didi der Singdrossel verwechselt werden. „Jeder Vogel singt sein eigenes Lied“, besagt eine abgedroschene Redensart, und seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts haben Vogelbeobachter, Naturforscher und Biologen versucht, diese Lieder aufzuschreiben und anhand dessen grundlegende Fragen über die Verständigung, das Verhalten und die Entwicklung von Vögeln zu beantworten. Doch dieses wissenschaftliche Kuriosum stammt aus einer Zeit weit vor den heutzutage anerkannten Verfahren, um diese bekanntlich flüchtigen Sinneseindrücke mit hinreichender Genauigkeit festzuhalten und zu untersuchen.

Mein aktuelles Buchprojekt geht der Geschichte von Feld-Tonaufnahmen und ihrer Verwandlung in ein wissenschaftliches Verfahren zur Untersuchung der biologischen Welt nach. Es betrachtet die Entwicklung von den 1880er- bis zu den 1980er-Jahren, die zu Schauplätzen wie dem Laboratory of Ornithology der Cornell University, der British Broadcasting Corporation (BBC) und dem Department of Zoology an der Cambridge University sowie öffentlichen Parks, zoologischen Gärten und entlegenen Feldstätten führt, und untersucht, wie Feldornithologen, Ethologen und Bioakustiker ihre Verwendung von neuen Medientechnologien als eine Möglichkeit, Klang  darzustellen und weiterzugeben, rechtfertigten; wie sie solche flüchtigen Vokalisationen zu Gegenständen wissenschaftlicher Untersuchung ordneten; und wie sich durch sie das Lauschen auf die Natur verändert hat, sowohl für die Wissenschaftler als auch für ihre Zuhörerschaft insgesamt. Diese Fragen bringen in die Forschungsgruppe „Epistemes of Modern Acoustics“ zum einen das Interesse an den kulturellen und materiellen Verfahren ein, die zu neuen Einblicken in die Natur und Wahrnehmung von Klang verhalfen, und zum anderen an der Rolle von akustischen Strategien bei der Herstellung von wissenschaftlichem Wissen.

Die Aufnahme und Untersuchung von Tierlauten war nie eine rein wissenschaftliche Angelegenheit. Die praktisch allgegenwärtigen und traditionell als „Lieder“ verstandenen melodischen Vokalisationen  bezauberten eine breite Zuhörerschaft. Infolgedessen wurden die Techniken der Feldaufnahmen häufig in enger Zusammenarbeit mit einer bunten Mischung aus Amateur-Naturforschern, Vogelbeobachtern, Hobby-Klangjägern, Tonmeistern, Beschäftigen des öffentlichen Rundfunks, Instrumentenbauern und Musikern entwickelt. Indem sich Wissenschaftler die Tonaufnahmetechniken aus den Bereichen der Musik oder des Rundfunks aneigneten, gestalteten die damit verbundenen Fertigkeiten, Bedeutungen und Hörerschaften die Dynamik der Wissensproduktion mit.

 

Fig. 2: Cornell ornithologist Peter P. Kellogg in an improvised studio on field expedition in 1935. Albert R. Brand Papers #21-18-899, Division of Rare and Manuscript Collections, Carl A. Kroch Library, Cornell University.

Abb. 2: Der Cornell-Ornithologe Peter P. Kellogg in einem improvisierten Studio auf einer Feldexpedition im Jahr 1935, Albert R. Brand Papers #21-18-899, Division of Rare and Manuscript Collections, Carl A. Kroch Library, Cornell University.

 

Bis in die 1930er-Jahre engagierte die Unterhaltungs- und Tonträgerindustrie Wissenschaftler wie den Ethologen Oscar Heinroth, den Berliner Zoodirektor Lutz Heck oder den Wissenschaftspopularisierer Julian Huxley zur Unterstützung bei der Aufnahme von Vogelgesang. Ihre Arbeit wurde als Ton in Filmproduktionen verwendet, für Radiosendungen und als Material für populäre Klangbücher und Schallplatten. In den Vereinigten Staaten lernten Cornell-Ornithologen in Zusammenarbeit mit einer Filmproduktionsfirma, Naturklänge aufzunehmen. Doch während die Feldaufzeichner sich darin schulten, Schallplattenschneider und elektrische Mikrofone zu bedienen, mussten sie die Vorstellungen der Studiotechniker von Klangtreue und einer Ästhetik des rauschlosen und klaren Klangs mit ihrer eigenen Sorge um Authentizität und Objektivität vermitteln.

Solche Kooperationen wurden in den 1950er-Jahren fortgesetzt, als die BBC ihr für Wissenschaftler von Naturforschungsorganisationen und Forschungsinstituten zugängliches Tonarchiv aufbaute – die meisten Aufnahmen von Vogelstimmen darin stammen von Ludwig Koch, einer Ikone des öffentlichen Rundfunks, und wurden für das Sendeprogramm  aufgezeichnet. Am Department of Zoology der Cambridge University wurden diese Aufnahmen als Basis für ein neues Forschungsprogramm zum Lernen von Vogelstimmen unter der Leitung des Ethologen William H. Thorpe verwendet. Die breite Wirkung, die diese Aufnahmen in der wissenschaftlichen Forschung und ihrer Popularisierung, in der kommerziellen Unterhaltung und in der Bildung hatten, gab die Art und Weise vor, wie sie produziert, weitergegeben und verwendet wurden. Die Cornell-Ornithologen zum Beispiel unterstützten das Bioakustikprogramm des Laboratory of Ornithology und die Tierstimmensammlung der Macaulay Library finanziell, indem sie aus ihren Aufnahmen und den Beiträgen von Amateuren mittels eines ausgeklügelten Aufnahmenhandels Kapital schlugen – unter anderem durch geschickten Tausch von Aufnahmen, Vergabe von Urheberrechtslizenzen und Publikation von kommerziellen LPs. Dazu mussten die Ornithologen mit den Amateuren und mit ihren kommerziellen Kooperationspartnern über verschiedene Formen von Zugang, Anerkennung, Vergütung und Eigentumsrechten verhandeln.

 

Abb. 3: Naturaufnehmer und Radio-Persönlichkeit Ludwig Koch (links) liegt wartend neben einem improvisierten Aufnahmestudio. Aus Koch (1955), Memoirs of a Birdman. London: Phoenix House.

Abb. 3: Naturaufnehmer und Radio-Persönlichkeit Ludwig Koch (links) liegt wartend neben einem improvisierten Aufnahmestudio. Aus Koch (1955), Memoirs of a Birdman. London: Phoenix House.

Zu solchen Aufnahmepraktiken gehörte andererseits eine bestimmte Art und Weise, der Natur zuzuhören. In den frühen 1950er-Jahren gestalteten Bioakustiker den Klangspektrografen vom kryptoanalytischen Instrument der Kriegszeit zu einem Werkzeug für die Darstellung und Analyse von Vogelgesang um. Der Klangspektrograf bildete kurze Klangfetzen mittels einer detaillierten Analyse des akustischen Spektrums ab, die, wie die Analysten behaupteten, eine objektive Messung erlaubte. Dennoch blieben trainierte Hörer wichtig, um die aberhundert Aufnahmen, die im Feld gesammelt worden waren, zu sortieren und kategorisieren. Die Bioakustiker übten sich außerdem darin, auf kurze, analysierbare Vogelgesänge zu horchen, die beachtliche geografische und zeitliche Variationen aufwiesen. Solche Lieder ließen sich problemlos abbilden und gewährten ihnen einen Einblick in Lernprozesse. Indem sie sich auf solche kurzen Liedausschnitte vor einem rauschfreien Hintergrund konzentrierten, gewöhnten sich die Wissenschaftler jedoch an, Spezies, deren Lieder lange und detailreiche Duette enthalten, und den Einfluss der akustischen Umgebung auf die Gestaltung von Liedern während der nächsten Jahrzehnte außer Acht zu lassen. Die in dieser Studie vorgenommene Analyse erinnert daran, dass die historischen Zufälle der kulturellen Bedingungen, unter denen sich wissenschaftliche Techniken entwickeln, die Art und Weise, wie wir die Welt hören, mitgestalten.

Dieses Projekt wird am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte innerhalb der von Viktoria Tkaczyk geleiteten Forschungsgruppe „Epistemes of Modern Acoustics“ durchgeführt. Es bildet die Grundlage für zwei ihrer Arbeitsgruppen: In „Testing Hearing. Science, Art, Industry“ trägt es zur Forschungsgeschichte des Tierhörens und seiner Anwendung für Repellenttechniken bei, und in „Sound Objects in Transition. Knowledge, Science, Heritage“ unterfüttert es eine Longue-durée-Perspektive auf die Instrumente, Modelle und Metaphern, mit deren Hilfe Wissenschaftler die Stimme des Vogels und den Mechanismus seiner Syrinx erforscht und untersucht haben.