Forschungsthemen

Abb. 1: Biologische Substanzen als Grundlage für die Herstellung von Medikamenten, Instituto Farmacologico Serono, Rom, Datum unbekannt. Quelle: Merck „Corporate History“-Archiv/Fotosammlung Serono, Darmstadt.

Nr 51
Die Wunder körperlicher Abfallprodukte
Tamar Novick untersucht den Gebrauch körperlicher Abfallprodukte in der wissenschaftlichen Praxis. Sie geht der Frage nach, wie nutzlose Materialien wertvoll werden und wie dies neue Beziehungen zwischen entfernten Orten, Institutionen, Menschen und Tieren ermöglicht.

Seit 1963 wurden Hunderte Frauen fortgeschrittenen Alters in Zentralisrael gebeten, Urin in mobilen Behältern zu sammeln und für den israelischen Kampf gegen Unfruchtbarkeit zu spenden. Jeden Tag wurde der postmenopausale Urin mithilfe häuslicher Betreuerinnen eingesammelt und anschließend beseitigte eine andere, speziell für dieses Projekt angestellte weibliche Arbeitskraft alle Spuren von Geruch. Der Urin wurde in großen Behältern zu einem ortsansässigen pharmazeutischen Betrieb transportiert, wo ihm mithilfe von Kaolin die Flüssigkeit entzogen wurde. In Pulverform schickte man ihn anschließend nach Italien zu dem Pharmaunternehmen Serono in Rom. Bei Serono, das zu der Zeit teilweise dem Vatikan gehörte und bereits Erfahrung mit der Verarbeitung des Urins betagter italienischer Nonnen hatte, wurden aus dem Pulver Sexualhormone „extrahiert“ und zu einem höchst erfolgreichen Fruchtbarkeitsmedikament namens Pergonal verarbeitet – dem ersten, das einen Eisprung herbeiführte.

Abb. 2: Ausschnitt aus einem von dem italienischen Pharmaunternehmen Serono produzierten Werbefilm über Fruchtbarkeitsmedikamente, der die frühe Kampagne zur Sammlung postmenopausalen Urins zeigt. Datum unbekannt. Quelle: Merck „Corporate History“-Archiv/Sammlung Serono, Darmstadt.

Oft wird Urin als nutzlose Substanz betrachtet und es werden Mittel und Wege gefunden, ihn aus dem Alltagsleben verschwinden zu lassen. Doch wie viele Arten von Körpersubstanzen, die wir als Abfall betrachten, ist Urin außerordentlich wichtig. Im Rahmen meines gegenwärtigen Forschungsprojektes „Barren Structures“ („Nutzlose Gebilde“) untersuche ich die Rolle von Körperausscheidungen in wissenschaftlichen Verfahren, insbesondere im Hinblick darauf, wann und wie wertlose Substanzen nützlich werden. Im Rahmen dieses Projektes werfe ich einen genaueren Blick auf das Auftauchen von Urin als Grundlage der Fruchtbarkeitsforschung und ‑behandlung. Ich gehe dem Prozess nach, in dessen Verlauf Urin als Lösung für die speziellen Probleme eines europäischen Siedlungsprojekts in Palästina auserkoren wurde, und zeige, auf welche Art und Weise er voneinander entfernte Orte, Institutionen, Menschen und Tiere miteinander in Verbindung brachte und neue Beziehungen unter ihnen beförderte.

Trotz dieses blinden Flecks in der öffentlichen Wahrnehmung wird Urin in theoretisch-praktischen Bereichen wie Medizin und Landwirtschaft schon seit Langem genutzt. Viele Alchemisten versuchten ihn durch Destillation in Gold zu verwandeln – und entdeckten stattdessen Phosphat, das schließlich als Dünger die landwirtschaftliche Produktion veränderte. Es wurde als Desinfektionsmittel verwendet, zur Reinigung von Leder und zum Glätten von Wolle sowie als Lösung für Hautprobleme und andere Beschwerden eingesetzt – ein Verfahren, das als „Eigenurin-Therapie“ bekannt ist. In der Uroskopie, einem wichtigen Diagnoseverfahren im europäischen Mittelalter, nahm man an, dass Urin ein geheimes Wissen über die Körper von Menschen und Tieren bereithielt; dieses Wissen wird heutzutage durch die Urinuntersuchung aufgedeckt. Im frühen 20. Jahrhundert, mit der aufkommenden Hormonforschung, spielte Urin eine besonders wichtige Rolle, indem er die Fortpflanzung revolutionierte und eine enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Industrie herstellte.

In der Frühzeit der Endokrinologie, nachdem man erkannt hatte, dass hormonbasierte Fruchtbarkeitsmedikamente massenproduziert werden können, wurden verschiedene Organe – Hirnanhangdrüsen, Eierstöcke, Hoden und Plazentas – zu Quellen für die Extraktion von Geschlechtshormonen. Eine Zeit lang war die Gewinnung von Geschlechtshormonen aus Geweben das dominierende Verfahren, doch Urin trat rasch an die Stelle von Geweben, nachdem man in den 1920er-Jahren zunächst entdeckt hatte, dass der Urin von schwangeren Frauen und Stuten, und, ein Jahrzehnt später, dass der Urin von Frauen nach der Menopause reich an Geschlechtshormonen ist. Urin war sowohl billig als auch unbegrenzt für die Produktion von Fruchtbarkeitsmedikamenten verfügbar. Dass viele Tausend Menschen hormonbasierte Medikamente einnahmen und eigene Urinproben einsandten, um ihre Fruchtbarkeit testen zu lassen, führte zur Expansion von Pharmaunternehmen. Das explosionsartige Wachstum des Marktes und der Industrie wurde ermöglicht durch eine Festigung der Verbindungen zwischen diesen Unternehmen und den Forschern im Labor; indem der Urin von Menschen und von Pferden sie eng an landwirtschaftliche Betriebe, Krankenhäuser und endokrinologische Labore band, entstanden überraschende Allianzen.

Die Karriere des Urins als einem Forschungsgegenstand baute auf verschiedenen Infrastrukturen auf, beziehungsweise erschuf diese erst. Öffentliche Verkehrsunternehmen und Postverbindungen dienten der Suche nach Urinspendern und dem Transport von einzelnen menschlichen und tierischen Proben zur Untersuchung. Um ein Verfahren für die Urinverarbeitung zu etablieren, waren Pharmafirmen und Wissenschaftler auf die Zusammenarbeit angewiesen: Nachdem potenzielle Spenderinnen auf Bauernhöfen, in Krankenhäusern, Altenheimen oder Klöstern aufgespürt worden waren, musste der Urin eingesammelt werden und die Spenderinnen bezahlt werden; es war nötig, die Geruchsentwicklung einzudämmen, den Urin zu transportieren, seine Reinheit zu erhalten, indem man eine Vermischung verhinderte, ihn zu analysieren, zu reinigen und zu standardisieren und schließlich in ein Medikament zu verwandeln, das auf einem stetig wachsenden Markt bestehen konnte. Urin musste unsichtbar und geruchlos werden, um ein potenzielles Heilmittel sein zu können.

Abb. 3: Poster anlässlich der Feier des Passahfestes im Kuhstall von Kibbuz Mizra, 1947, das das Ideal des fruchtbaren Lebens in Palästina beschreibt. Der Schriftzug lautet: „Unsere Köpfe werden gefüllt sein, mit Tau gefüllt sein. Die Segnungen des Samens/Sperma werden uns nicht vorenthalten werden.“ Quelle: Toshek: Avraham Amarant, Tel-Aviv: Sifryiat Poalim, 1993.

Im Palästina des frühen 20. Jahrhunderts, wo ein europäisches Mehr-Arten-Siedlungsprojekt vor den Herausforderungen der Umwelt- und Klimabedingungen des Mittleren Ostens stand, erwies sich die Unfruchtbarkeit sowohl von Menschen als auch von Tieren als schwerwiegendes Problem. Nicht nur bei Frauen, sondern auch bei vielen Kühen und Schafen kamen Unfruchtbarkeit und Fehlgeburten vor. Je stärker die Unfruchtbarkeit das Überleben und Wachstum der sich ansiedelnden Populationen bedrohte, desto größer war die Neigung, in Körperausscheidungen nach Lösungen zu suchen. Unter diesen Bedingungen etablierte sich eine Gemeinschaft von Fruchtbarkeitsexperten von Mitte der 1930er-Jahre an. Zentral für Ansiedlungsbemühungen wurde die Herstellung von Medikamenten und die Schaffung von Märkten angesehen. In dem Maße, in dem menschliche Körper mehr Pferde-Urin aufnahmen und mehr menschlicher Urin in die Körper von Rindern und Schafen eingebracht wurde, wurden auch Fragen über die Grenzen des Körpers und des Menschen aufgeworfen.

Abb. 4: Von einem Pferd angeführte Siedler. Eliyahu Cohen, „The Harvest Holiday March“, Kibbuz Ashdot-Ya’acov. Datum unbekannt. Quelle: „Bitmuna“-Sammlung, Israel.

Die Verarbeitung von Urin im Labor spielte auf diese Weise eine Rolle bei der Ermöglichung des europäischen Siedlungsprojekts in Palästina/Israel. In diesem Zusammenhang wurde eine Reihe von anzusiedelnden Lebewesen genutzt, die Teil des globalen Wettlaufs um mehr Wissen über Hormone und deren profitable Herstellung wurden. Diese Allianzen zwischen Wissenschaftlern und Pharmaunternehmen erlaubten diesen, so behaupteten sie, anders als die Alchimisten tatsächlich Urin in Gold zu verwandeln. Urin als Forschungsobjekt hat die Grenzen zwischen Menschen und Tieren neu vermessen, indem Wissen und Materialien zwischen und innerhalb der beiden Körper hin und her floss: Die Bedrohung von Unfruchtbarkeit führte zu einer engen Nachbarschaft. Als Teil der Forschungsgruppe The Body of Animals der Abteilung III versucht dieses Projekt zu konkretisieren, wo solche Unterschiede diskutiert und solche Grenzen neubestimmt wurden.

Abb. 5: Herstellung von Vaginalspiegeln für Nutztiere. Kibbutz Ein-Harod. Unbekanntes Datum. Quelle: Israelisches Staatsarchiv/TS-38/10815, Jerusalem.