Bildliche Darstellungen himmlischer Phänomene zeigen uns, wie unterschiedliche Experten Konzepte, Strukturen und Formen miteinander vermischt und verändert haben und wie sie aus verschiedenen kulturellen Repertoires und Registern von Wissen geschöpft haben. Wir wissen zum Beispiel, dass der Drachenkopf eine Transformation des indischen Scheinplaneten Rahu ist, der Finsternisse verursacht, aber kein Drache ist. Vorislamische Texte aus Iran und Syrien sprechen von einer Schlange als Erzeugerin von Finsternissen. Ob ihr Kopf in leicht veränderter Form dort auch in das Bild des Schützen aufgenommen worden ist und wie der Schütze zu seinem Katzenkörper kam, sind zwei der Rätsel, die in diesem Projekt erforscht werden.
Ein weiteres Rätsel ist bereits entziffert worden. Die blaue Himmelskarte (Bild 1) wurde ursprünglich als ein Produkt eines anonymen, iranischen Künstlers oder Astrologen aus dem fünfzehnten Jahrhundert identifiziert. Eine sorgfältige Analyse des Bildes ergibt aber, dass die Karte erst im siebzehnten Jahrhundert angefertigt worden ist.
Die ersten Hinweise auf einen fremden Ursprung der Karte sind ihre zahlreichen nackten Figuren, die Andromeda, Perseus, Auriga, die Zwillinge, den Schlangenträger, den Wasserträger, Kassiopeia und den menschlichen Oberkörper des Schützen zeigen, sowie die Darstellung des Wasserträgers von hinten. Klare Belege für einen westeuropäischen Vorgänger sind die Anwesenheit von Medusas Kopf und die Aufnahme von Berenices Haar. Berenices Haar, zum Beispiel, gehört nicht zum Bildkanon der Sternbilder in islamischen Gesellschaften, der von dem Astrologen ‘Abd al-Rahman al-Sufi (903–986) für ‘Adud al-Dawla (r. 949–983), dem Oberhaupt der Buyidendynastie (945–1055), etabliert worden ist. Für sein Buch stützte sich al-Sufi auf eine arabische Übersetzung des Almagests von Ptolemäus, einen Bildband der Konstellationen aus dem 9. Jahrhundert, mehrere Globen sowie auf Informationen zu Sternbildern von Beduinenstämmen auf der Arabischen Halbinsel. Allerdings war al-Sufi nicht mit der griechischen Mythologie vertraut. Das mag seine Umgestaltung des weiblichen Kopfes mit Schlangenhaar in den Kopf eines bärtigen, männlichen Dämons erklären (Bild 2).
Indikatoren eines möglicherweise holländischen Ursprungs sind der Fischschwanz von Pegasus, die Blumen in der Hand von Kassiopeia, die Giraffe unterhalb dieses Sternbildes und die Platzierung der Leier auf dem Körper des Raben. Vom Fischschwanz des Pegasus abgesehen, finden sich alle diese Elemente auf der nördlichen Himmelskarte von Andreas Cellarius (1596–1665) (Bild 3).
Der Fischschwanz von Pegasus war ein optisches Missverständnis. Es leitet sich von einer Karte ab, auf der Pegasus und die Fische zu eng beieinander gezeichnet worden waren. Ein Beispiel findet sich in einer anonymen, undatierten holländischen Karte (Bild 4). Sie ist allerdings kein Vorläufer der blauen Karte, da sie andere seiner Elemente nicht aufweist.
‘Abd al-Rahman al-Sufis Bildkanon ist ein ausgezeichnetes Beispiel für eine kreative Mischung von Bildelementen aus einer großen Palette eurasischer Kulturen. Nahöstliche, griechisch-römische und vorislamisch-arabische Sternbilder, Tierkreiszeichen, Namen und Himmelskoordinaten erscheinen in frühen Kopien von al-Sufis Buch gemeinsam mit zoroastrischen, mittelasiatischen, buddhistischen und möglicherweise sogar chinesischen Darstellungen menschlicher Gesichtszüge, Körpermerkmale, Bekleidung, Schmuck, Haartrachten und Kopfbedeckungen. Die kulturelle Transformation von Medusa in einen Dämon reiste mit den Übersetzungen des Buches ins Persische, Türkische, Lateinische, Kastilische und Hebräische weit durch Westasien, Nordafrika und Teile Europas. Dagegen gibt es keine Anzeichen dafür, dass sein Buch je in eine der ostasiatischen Sprachen übersetzt worden ist. Dennoch könnte ein ostasiatisches Planetenbild seiner Bildsprache nach, jedoch wohl nicht konzeptionell, mit al-Sufis Darstellung des Perseus im Zusammenhang stehen. Dieses Bild ist im dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert in Khara Khoto, der Hauptstadt der tangutischen Xi-Xsia Dynastie (r. 1038–1227), gemalt worden. Die Ähnlichkeit der Bildsprache zwischen al-Sufis Perseus und dem tangutischen Bild des Huibei genannten Pseudoplaneten (oder Kometen) (Bild 5) ist ein weiteres zu erforschendes Rätsel.
Andere tangutische Bilder kombinieren indische Darstellungen der neun Himmelskörper (Sonne, Mond, die fünf Planeten und die zwei Pseudo-Planeten Rahu und Ketu) mit Tierkreiszeichen aus Mesopotamien nach ihren Umgestaltungen in der griechisch-römischen Welt und Südasien sowie Darstellungen von Buddha. Ein Text über Rituale, die vor kosmischen Kalamitäten schützen sollen, empfiehlt solche Bilder „allen Monarchen, ihren großen Ministern und Untergebenen und dem allgemeinen Volk als Ganzem, die unter der Unterdrückung durch die Sonne, den Mond, die fünf Planeten, Rahu, Ketu, Kometen (oder andere) Zeichen und Unglück bringende Sterne leiden mögen.“
Forschungen über Himmelsbilder erfordern eine große Bandbreite von thematischem und regionalem Spezialwissen. Kolleginnen und Kollegen aus den miteinander kooperierenden Abteilungen I und III des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, an Berliner Universitäten und darüber hinaus in China, Korea, Japan, Indien, den USA, Großbritannien und Frankreich werden zu diesem Projekt beitragen. Sie untersuchen Bildtypen, die in verschiedenen Regionen geschaffen worden sind, und ihre Ähnlichkeiten und Transformationen sowie die linguistischen, politischen, künstlerischen und bildungsrelevanten Komponenten der Bilder und ihrer Reisen durch eurasische und nordafrikanische Kulturen.